Der Krieg im Irak, Tanzstile in Angola oder die Telefonnummer des Bioladens um die Ecke. Taucht eine Wissenslücke auf, kann man die in kürzester Zeit füllen – dank der 1998 gegründeten Internetsuchmaschine Google. Sämtliche Informationen scheinen zugänglich zu sein und die Welt wird gerne als Dorf bezeichnet. Migration, die Auslagerung von Produktionsstandorten oder internationale Kooperationen bilden nur einen Teil eines dichten Netzes an transnationalen Beziehungen, die die Welt umspannen. „Globalisierung“, das Wort, ohne das wir nicht mehr auskommen können, hat sich in den Jahren um die Jahrtausendwende zunehmend im Bewusstsein der Menschen etabliert. „Das Zusammenwachsen der Welt muss nicht nur beängstigend sein“, ist sich Helmut Adam, seit 2002 Geschäftsführer von Südwind, sicher. „Es bietet auch die Chance, globale Regeln gegen die Ungerechtigkeiten der Welt zu schaffen.“
Die Herausforderung durch die wachsende Globalisierung wurde von Südwind von Anfang an angenommen. Obwohl sich mittlerweile viele vom Schubladendenken „Erste, Zweite und Dritte Welt“ verabschiedet haben, bestehen die Ungleichheiten, die damit bezeichnet wurden, weiterhin. Sie verschärfen sich noch: die Reichen werden reicher und die Armen werden ärmer. Die Unübersichtlichkeit der weltweiten Prozesse für den Einzelnen kommt beängstigend dazu.
Welche Möglichkeiten gibt es, den Lauf der Dinge mitzugestalten? Simple, schnelle Antworten gibt es nicht. Es geht darum, die komplexen, globalen Beziehungen offen zu legen. Die Hinterfragung dieser globalen Regeln rückte in den letzten zehn Jahren in den Mittelpunkt der Arbeit von Südwind. Und auch die Organisation selbst wurde verstärkt Teil der globalen Beziehungen. Das Sitzungszimmer des Büros in der Laudongasse füllt sich dank EU-Projekten regelmäßig mit KollegInnen aus allen EU-Ländern von Spanien bis Rumänien. Südwind ist internationaler geworden und pflegt einen regen Austausch mit ProjektpartnerInnen aus der ganzen Welt, sei es eine Gewerkschafterin aus Bangladesch oder eine Erziehungswissenschaftlerin aus Argentinien.
Die Bildungsarbeit von Südwind orientiert sich am so genannten Globalen Lernen. Dieses pädagogische Konzept soll Lernenden vermitteln, mit einer instabil erscheinenden Welt umzugehen. „Die Informationsflut und die Veränderung von Themenfeldern sind eine unglaubliche Herausforderung. Früher haben wir alle paar Jahre unser Bildungsangebot aktualisiert, jetzt müssen wir das zumindest jedes halbe Jahr machen. Wir leben in einer hochdynamischen Zeit, und Globales Lernen thematisiert genau das und gibt Hilfestellungen, damit umzugehen“, erklärt Franz Halbartschlager, Bildungsbereichsleiter von Südwind, die Veränderungen der letzten zehn Jahre. Die Weiterentwicklung des Globalen Lernens ist mittlerweile ein europaweites Anliegen geworden“, stellt Halbartschlager für die letzten zehn Jahre fest. Bilanz des letzten Jahres: 13.000 BesucherInnen bei Workshops und Ausstellungen in ganz Österreich.
Das Millennium wurde mit einer Fülle an Büchern begonnen, die bereits als Klassiker gelten, „Profit over People“ von Noam Chomsky, „No Logo!“ von Naomi Klein oder „Die Neuen Herrscher der Welt“ von Jean Ziegler. Oft als unrealistische Globalisierungsgegner oder sogar Globalisierungsverweigerer abgetan, versteht sich die neue Strömung selbst als Globalisierungskritik.
1999 war diesbezüglich ein entscheidendes Jahr: Von US-amerikanischen Medien als „Battle of Seattle“ bezeichnet, leiteten die Ausschreitungen beim Auftakt der Millenniums-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) die weltweite Auseinandersetzung mit dem Globalisierungsbegriff ein. „Es wurde offensichtlich, dass Globalisierung nicht bedeutet: alle werden gleich, alle kriegen mehr Wohlstand, sondern dass es sich um ein hochgradig hierarchisches Verhältnis handelt“, erklärt Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Universität Wien. „Seattle wurde zum Katalysator für den aufgestauten Unmut – mitten in den USA. Das Weltsozialforum in Porto Alegre wäre gar nicht denkbar ohne die Unruhen in Seattle.“
Das Weltsozialforum 2001 im brasilianischen Porto Alegre brachte die unterschiedlichsten sozialen Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und politischen AkteurInnen erstmals an einem Ort zusammen. Alternativen zum herrschenden Weltsystem sollten gefunden werden. „Das Weltsozialforum ist so eine Art Mekka“, Christian Felber schmunzelt, wenn er diese beiden Pilgerorte miteinander vergleicht. „Denn einmal im Leben soll man dort gewesen sein.“ Im Jahr 2000 war er einer der Mitbegründer von Attac Österreich. Nach dem Motto „Märkte entwaffnen“ wurde nach französischem Vorbild die soziale Bewegung auch in Österreich ins Leben gerufen (vgl. Interview mit Christophe Aguiton, SWM 04/99).
Attac sieht sich als Teil des zurückschlagenden Pendels. Seit den 1980er Jahren bewegte es sich massiv in Richtung Liberalisierung und Loslösung der Märkte von Politik und Gesellschaft. Christian Felber ist sich sicher, dass Attac den Globalisierungsdiskurs in Österreich maßgeblich beeinflusst hat. „Das, was wir aus einer Minderheitenposition hervorgebracht haben, ist heute Mainstream.“ Heute lädt ihn die Wirtschaftsuniversität Wien zu einer Vorlesung zu Theorie und Kritik der Globalisierung ein. „Und das ohne Studium der Ökonomie“, sagt er erfreut.
Eine der wenigen Fragen, die vermutlich auch Google nicht beantworten kann: Was ergibt die Kreuzung einer Banane mit einem beliebten Wiener öffentlichen Verkehrsmittel? Genau, eine Bananen-Bim. Ein Experiment, das Südwind 2002 fernab von Gentechniklabors gelungen ist. „Im Zuge der Fairen Wochen haben wir eine Straßenbahn gelb bemalt und der Bananensprayer hat Bananen drauf gesprayt“, schwärmt Renate Sova, ehemalige Leiterin der Südwind-Regionalstelle Wien. Ihre Augen beginnen jedoch erst zu glänzen, erinnert sie sich an die Cocktailparty, die Vorträge und die Workshops, die bei voller Fahrt abgehalten wurden. „Und das zur Weihnachtszeit am Ring!“
Auch wenn fairer Handel nicht die Lösung für alle Probleme sein kann, so ist er doch ein Beweis, dass Wirtschaften, das nicht auf Gewinn orientiert ist, funktioniert. Jean-Marie Krier, ehemals Mitarbeiter des ÖIE und langjähriger Geschäftsführer von EZA Fairer Handel versucht, die möglichen Trends zu erkennen: „Vor zehn Jahren hätte sich niemand vorstellen können, dass faire Kosmetikprodukte sich gut verkaufen würden. Wer weiß, vielleicht gibt es in zehn Jahren einen fair gehandelten Computer.“
Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg von Schwellenländern wie China, Indien oder Brasilien gerieten katastrophale Arbeitsbedingungen an ausgelagerten Produktionsstandorten immer mehr ins Kreuzfeuer der Kritik. Insbesondere China ließ durch unmenschliche Arbeitsbedingungen aufhorchen. Als Gastgeber der olympischen Spiele 2008 zog das Reich der Mitte verstärkt die Aufmerksamkeit der Welt auf sich, jedoch selektiv, wie es ein deutscher Journalist treffend formulierte: „Die Welt schaute Olympia, und drückte ansonsten beide Augen zu.“
Die Clean Clothes Kampagne, die Südwind seit 2001 koordiniert, lud Krone- und Kurier-JournalistInnen zu einer Bestandsaufnahme der unerträglichen Arbeitsbedingungen in der Sportartikelindustrie nach Hongkong ein.
Der Trend, in Kampagnen faire Arbeitsbedingungen und soziale Menschenrechte zu thematisieren, wird auch in Zukunft bestehen bleiben, meint Stefan Kerl, Kampagnenleiter von Südwind. „Wir setzen jetzt bei der öffentlichen Beschaffung, bei der Herstellung von Spielzeug und Computern an.“
Eine neue Strategie seit 2006: „Handeln für Eine Welt“ interveniert durch gezielte Aktionen bei Unternehmen weltweit, die soziale Rechte von Beschäftigten grob verletzen. Das digitale Zeitalter ermöglicht neue Strategien in der entwicklungspolitischen Kommunikation: Facebook, RSS-Feeds, Twitter und YouTube-Videos – Internetanwendungen, bei denen sich knapp 30-Jährige bereits alt fühlen können. Protestschreiben kosten heute nur noch einen Mausklick. Die Zeiten, in denen KonsumentInnen richtige Briefe an Firmen schrieben, um ihren Unmut über Produktionsbedingungen kundzutun, scheinen lange zurück zu liegen.
Es ist unmöglich, an die letzten zehn Jahre zu denken und nicht das Datum 11. September 2001 zu erwähnen. Die USA verloren durch das Attentat auf das World Trade Center den Schein der Unverwundbarkeit auf eigenem Territorium. Als Reaktion setzte der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, George W. Bush, auf eine neue Politik: War on Terrorism. Militarisierung und die Unterwerfung der Welt unter so genannte Sicherheitsfragen wurden (wieder) Programm. 2001 führten die USA – völkerrechtlich als Selbstverteidigungsakt legitimiert – eine militärische Intervention in Afghanistan durch. 2003 folgte ein so genannter Präventivkrieg gegen den Irak.
Für die Entwicklungszusammenarbeit bedeutete das, stärker als Teil der Sicherheitspolitik gesehen zu werden – gegen die „neuen Gefahren aus dem Süden“, wie es USAID, die staatliche US-amerikanische Entwicklungshilfeagentur, erklärte.
Der nunmehrige Ex-Präsident Bush zog wie wohl kaum ein Politiker zuvor Abneigung und globales Kopfschütteln auf sich. Linke Bewegungen auf der ganzen Welt erkoren die USA zum neuen Feindbild und verurteilten die aggressive Kriegsstrategie des US-Präsidenten. Selbst konservative PolitikerInnen Europas wandten sich von diesem Kurs ab – und mussten sich von den USA als „altes Europa“ milde belächeln lassen.
2003 demonstrierten neun Millionen Menschen weltweit gegen den Irakkrieg. Als 2009 Barack Obama als erster Afroamerikaner zum US-Präsidenten gewählt wurde, kam dies einer Revolution gleich. Die Hoffnung richtet sich nicht nur auf eine neue Außenpolitik, sondern auch auf ein dringend notwendiges neues ökologisches Bewusstsein.
Fast taggleich ein Jahr vor dem 11. September wurden unweit des World Trade Center in derselben Stadt die Millennium Development Goals (MDGs) von der UNO verabschiedet. Die MDGs stehen für eine neue Ära der Entwicklungspolitik, in der international acht messbare Ziele umfassender und konkreter denn je formuliert wurden. Alle 189 UNO-Mitgliedsstaaten verpflichteten sich etwa im Ziel 1 zur Halbierung der absoluten Armut bis 2015.
Dass die ehrgeizigen Ziele erreicht werden, ist mehr als ungewiss. „Bei den MDGs ist die Kohärenz das Problem. Wenn man sie ernst nimmt, müsste man die Welthandelsorganisation WTO, das Wettbewerbsdenken und die imperialen Politiken in Frage stellen“, analysiert Ulrich Brand. „Bedeutsam ist, dass sie die Aufmerksamkeit auf wichtige Themen lenken wie Gleichstellung der Geschlechter, ökologische Nachhaltigkeit oder Friedenserhaltung.“
Im Jahre 2005 legte man mit der Pariser Deklaration den programmatischen Grundstein für eine verbesserte Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit. Unter anderem sollen verstärkte Partnerschaften zwischen den Geber- und Empfängerländern und reglementierte Evaluationen Entwicklungszusammenarbeit insgesamt effizienter machen.
Der Schutz der gemeinsamen Umwelt ist eines der Kernziele der MDGs. Mittlerweile existieren ausformulierte Regelwerke und Zielvereinbarungen, um der voranschreitenden Umweltzerstörung Einhalt zu gebieten. Ulrich Beck bleibt jedoch pessimistisch: „Nichts funktioniert: weder die Implementierung der Klimarahmenkonvention, noch das Kyoto-Protokoll, noch die Biodiversitätskonventionen. In 50 Jahren wird man sagen, die ökologische Krise begann in den 1970ern, aber ab der Jahrtausendwende ist man sich bewusst geworden, dass die Bestrebungen, das zu ändern nicht effektiv durchgeführt wurden.“
Schmelzende Pole und Gletscher, Artensterben und Desertifikation werden von PolitikerInnen weltweit noch allzu oft als Problem der jeweils anderen betrachtet. Und das, obwohl sich dem Thema Klimawandel selbst Medienabstinente nicht entziehen konnten. Der Dauerbrenner wurde jedoch von einem anderen Schreckensszenario abgelöst: der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise.
„Not leidende Banken“ – dieses Unwort des Jahres 2008 beschreibt die Situation am treffendsten: Ursachen und Folgen der Weltwirtschaftskrise werden auf den Kopf gestellt. Banken, die mit ihrer Finanzpolitik die Krise verursacht haben, werden als Opfer bemitleidet.
Am Ende der ersten Dekade des neuen Jahrtausends blicken viele Menschen verunsichert in die Zukunft. „Es gibt derzeit niemanden, der sagt, ich weiß wie es in einem Jahr sein wird“, bringt Christian Felber die derzeitige Lage auf den Punkt. „Die Krise wird noch schlimmer werden, die Konsequenzen sind vollkommen unabsehbar. Ich halte derzeit alles möglich von einem rechtsautoritären Staat bis zu der Überwindung des Kapitalismus. Das wichtigste ist jetzt, den Menschen Alternativen aufzuzeigen.“
Alternativen aufzeigen und Hintergründe offen legen wird auch weiterhin die Aufgabe für Südwind in den nächsten Dekaden sein. Entwicklungspolitik im eigenen Land hat in den letzten 30 Jahren nicht an Aktualität verloren. „Ich würde mir wünschen, dass die Politik mehr auf NGOs hört“, denkt Helmut Adam, Geschäftsführer von Südwind, über seine Visionen nach. „Auch wenn es unrealistisch ist. Aber in den USA hat sich ja auch einiges verändert: von der Selbstherrlichkeit eines Bush zu den offenen Ohren eines Obama.“